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Ins Netz gegangen

Die Reste von Fischernetzen werden für Meerestiere oft zur tödlichen Falle. Ein Hamburger Start-up macht aus diesen Geisternetzen nun Armbänder und Schlüsselanhänger.

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ls der neue Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) im Dezember 2021 sein Amt antrat, überreichte er Vorgänger Peter Altmaier (CDU) als Abschiedsgeschenk ein ungewöhnliches Armband der Firma Bracenet aus Hamburg. Das Besondere daran: Es ist aus den Resten von Fischernetzen aus der Nordsee gemacht.

Todesfalle für Fische, Schildkröten und anderen Meeresbewohner

„Wir sind ziemlich stolz darauf, dass es unser Herzensprodukt sogar in die Politik geschafft hat“, sagt Benjamin Wenke, 37. Er hat mit seiner Ehefrau Madeleine von Hohenthal, 35, ein Start-up gegründet, das die Meere von sogenannten Geisternetzen befreit – Fischernetze, die entweder bei Stürmen über Bord gehen oder aber im Wasser entsorgt werden. Und weil sie nicht mehr wie vor Jahrzehnten aus Hanf, Sisal oder Leinen gefertigt sind, sondern aus synthetischen Kunststoffen, verrotten sie nicht, sondern treiben unverwüstlich im Meer. Dort werden sie zur Todesfalle für Fische, Schildkröten und anderen Meeresbewohner. „Dagegen wollen wir etwas tun“, sagt Geschäftsführer Wenke.

„Wir sind ziemlich stolz darauf, dass es unser Herzensprodukt sogar in die Politik geschafft hat.“ Benjamin Wenke
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Begonnen hat alles 2015, als die beiden als Backpacker drei Wochen zum Tauchen nach Ostafrika reisten. Damals arbeitete Wenke als Marketingleiter bei Bosch, und seine Frau organisierte als Head of Art Buying Fotoproduktionen bei der Kommunikationsagentur BBDO. Doch der Traum von der unberührten Unterwasserunterwelt zerplatzte schnell, als sie dem Todeskampf von so manchen Meerestieren in den zwar farbenfrohen, aber tödlichen Netzen zusehen mussten. Geschockt und berührt sprachen sie mit Fischern, Anwohnern, anderen Touristen und begannen noch während des Urlaubs, angeschwemmte oder umherschwimmende Netze einzusammeln.

Armbänder aus Treibgut

„Es gab nicht das eine Erweckungserlebnis“, sagt Wenke. „Aber in der Summe waren wir zu betroffen, um tatenlos zu bleiben.“ Am Urlaubsende fuhren sie auf ihrer Vespa zurück zum Flughafen, verschenkten die Sommerklamotten im letzten Dorf und flogen mit Rucksäcken zurück, die statt Kleidung getrocknete Netze enthielten. Ihnen war die Idee gekommen, aus dem tödlichen Treibgut Armbänder zu fertigen, sie zu verkaufen und den Erlös für die Rettung der Meere zu spenden.

Jedes Schmuckstück – wie dieses Armband Red Sea – bedeutet ein Stück Geisternetz weniger im Meer.
Herzenssache: Madeleine von Hohenthal und ihr Mann Benjamin Wenke auf Stapeln alter Fischernetze, aus denen sie nachhaltige Schmuckstücke herstellen.

Inzwischen sind sechs Jahre vergangen. Und was als Nebenbei-Herzensjob in Nachtarbeit am Küchentisch begann, ist auf ein Unternehmen mit 32 Mitarbeitenden in einem Hinterhof am Hamburger Jungfernstieg angewachsen. Wenke und von Hohenthal kündigten 2018 ihre sicheren Jobs und wagten die Gründung der Bracenet GmbH. „Wir kauften Lebensmittel für ein halbes Jahr ein“, erzählt Wenke. „Wir wussten ja nicht, ob unsere Armbänderirtschaftlichen Erfolg haben würden.“

Fünf Tonnen Netze, gefischt von 250 Taucherinnen und Tauchern

Doch die Idee traf den Nerv der Zeit. Nachhaltigkeit und Upcycling sind zunehmend wichtige Themen – auch für Unternehmen. 185.000 Euro hat Bracenet seither an kooperierende Umweltorganisationen wie Sea Shepherd, Ärzte ohne Grenzen oder Viva con Agua gespendet. Fünf Tonnen Netze fischten 250 ehrenamtliche Taucherinnen und Taucher von Partnern wie Healthy Seas und Ghost Diving weltweit für sie bislang aus den Meeren. Per GPS orten sie Schiffswracks oder schwimmen zu Korallenriffs, wo sich die Mikroplastikteilchen absondernden Netze verfangen haben. Das Unternehmen Nofir reinigt die Fundstücke dann und schickt sie zur Weiterverarbeitung nach Deutschland.

Von Backpackern zu Gründern: Madeleine von Hohenthal und ihr Mann Benjamin Wenke.
Das Logo ihrer Firma Bracenet, die sie 2018 gegründet haben.

Mit dem Verkauf von Schmuck und der inzwischen um Schlüsselanhänger, Hundeleinen und mehr erweiterten Produktpalette erwirtschaftet Bracenet Umsätze im unteren siebenstelligen Bereich. „Ohne die Hilfe von Familie, Verwandten und Freunden hätten wir es nie geschafft“, sagt Wenke. Als damals der erste Großauftrag der Telekom hereinschneite, dachten sie noch, die Abwicklung mal eben so mit Bordmitteln schaffen zu können. „Doch dann kamen immer mehr Anfragen herein. Da war uns klar, wir müssen die Produktion professionalisieren.“ Inzwischen gehören zum Beispiel die Otto Group und verschiedene Fluggesellschaften zu ihren Kunden. Auch Investoren sind auf Bracenet aufmerksam geworden. „Aber das passt noch nicht“, sagt Wenke: „Ein Familienbetrieb ist auch Verpflichtung.“


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