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Wo sind sie alle nur geblieben?

Arbeitskräfte verzweifelt gesucht! Bei Logistikunternehmen, Handwerkern und Restaurants, auf dem Flughafen und in IT-Abteilungen – der Mangel an Personal zwingt den Mittelstand in die Knie. Lösungen müssen her. Nur welche?

Lesedauer: 12 Minuten
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as Video wurde millionenfach geklickt und machte auch überregional Schlagzeilen. Der Glasermeister Sven Sterz aus dem niedersächsischen Geestland postete nach der monatelangen vergeblichen Suche nach Auszubildenden ein selbstgedrehtes Video auf Facebook. Sterz ließ eine große Glasscheibe fallen, die in tausende Scherben zersprang. Dann erklärte er, dass künftige Azubis nicht nur solche Fehler machen dürften, sondern sogar einen Zuschuss zum Führerschein erhalten würden. Der Erfolg gab ihm recht: Er erhielt binnen weniger Tage 17 Bewerbungen. Das bayerische Metzgerhandwerk beschwört derzeit im Internet die Kraft der Sagen. Der Keulenkrieger Qarnivar und der Beefbeschwörer Atior streifen durch Wälder, Dörfer und Städte, getrieben von der Berufung, die Ehre des Fleischerhandwerks und die Würde des Tieres zu verteidigen.

Reisende am Flughafen: 7.200 Beschäftigte (Stand: Juni 2022) fehlen an deutschen Airports.

„Damit auch in Zukunft für Salami auf deiner Pizza und Schinken auf deinem Toast gesorgt ist, braucht das ehrbare Handwerk mehr starke Hände in seinen Reihen. Pack’ mit an und kreiere mit uns die Fleischköstlichkeiten von morgen“, heißt es in dem dramatischen Appell der Kampagne „Butcher‘s Tale“.

Die Arbeitskraft schwindet

Der Erfindungsreichtum bei der Suche nach Personal kennt keine Grenzen. Kein Wunder. Der Arbeitskräftemangel hat inzwischen fast alle Branchen erfasst. Für den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) steht inzwischen unser Wohlstand auf dem Spiel: „Der Fachkräftemangel bedroht die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und das Wachstum der deutschen Wirtschaft.“ Die Folgen sind überall spürbar – auch abseits der Schlagzeilen um das sommerliche Chaos an den deutschen Flughäfen. Personalmangel heißt im Alltag: warten, warten, warten. Ob auf Handwerksleistungen, die Post, den Zug oder den nächsten Termin bei der Steuerberatung. „Wo sind die nur alle hin?“, titelte der „Spiegel“ angesichts offiziell gemeldeter 1,73 Millionen offener Stellen. Und womöglich werden wir in ein paar Jahren die momentane Situation im Rückblick noch als vergleichsweise paradiesisch betrachten. „Die heutigen Engpässe sind ein laues Lüftchen, verglichen mit der Orkanfront, die der demografische Wandel nun durch den Übergang der Babyboomer in den Ruhestand in den hiesigen Arbeitsmarkt treibt“, warnen Prof. Axel Plünnecke und Dr. Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft in einem Gastbeitrag in der FAZ.

"Die heutigen Engpässe sind nur ein laues Lüftchen." Prof. Axel Plünnecke, Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration, beim Institut der deutschen Wirtschaft
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Attraktivität durch Transformation

Im Kampf um die besten Köpfe werden Imagekampagnen wie die der Fleischerbranche und originelle Bewerbungsaufrufe via Video von Glasermeister Sterz nicht reichen. Fast alle Unternehmen haben dies erkannt und punkten mit neuen Strategien. Dazu zählen vor allem attraktivere Arbeitsbedingungen. Homeoffice und flexible Arbeitszeiten sind vielerorts Standard, betriebliche Gesundheitsförderung geht weit über den kostenlosen Obstkorb, die aktiven Pausen und bezahlte Sportkurse hinaus. Neue Bürokonzepte ziehen in die Unternehmen. Mitarbeitende können sich online einbuchen, inklusive der Option eines Einzelbüros zum ungestörten Arbeiten.

Firmen-Patriarchat war sowieso gestern – inzwischen lässt sich sogar mitunter im Bankgewerbe die Chefetage duzen. Große Unternehmen investieren Millionen in die Weiterbildung ihrer Belegschaft, für besonderes Engagement werden Prämien ausgelobt. Und doch werden bezahlte Yoga- und Sprachkurse den Fachkräftemangel nicht allein beheben. Attraktive Arbeitsbedingungen und Löhne können zwar magnetische Wirkung entfalten – aber sie reißen dann woanders Löcher ins Personaltableau.

Inklusion und Gleichberechtigung

Am Ende muss es darum gehen, die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen. Das klingt sperrig, aber eine Zahl verdeutlicht, worum es geht. Nach Angaben des DGB arbeitet fast jede zweite Frau (47,9 Prozent) in Teilzeit, bei den Männern ist es nur jeder Zehnte. Viele Frauen würden sofort ihre Arbeitszeit aufstocken, wenn die Betreuung der Kinder besser geregelt wäre. Vor allem große Unternehmen wie Daimler, Bosch oder Airbus haben an ihren Standorten Betriebs-Kitas eingerichtet. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Betreuungszeiten können sich nach den Arbeitszeiten ausrichten, zudem sparen die Eltern die Wegzeit zwischen Kita und Arbeitsstelle. Bei der Diskussion um Erwerbsbeteiligung gerät eine Gruppe oft aus dem Blickfeld: Menschen mit Handicap, die deutlich häufiger arbeitslos sind als die nicht-behinderte Bevölkerung. 172.000 Menschen mit einem Handicap waren 2021 arbeitslos gemeldet, obwohl viele von ihnen gut ausgebildet sind.

"Der demografische Wandel treibt eine Orkanfront in den Arbeitsmarkt" Dr. Oliver Stettes, Leiter Cluster Arbeitswelt und Tarifpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft
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Lösungen liefert die Internetplattform „Inklusion gelingt“ mit den Partnern Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sowie dem Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH). „Inklusion gelingt“ zeigt Fördermöglichkeiten auf und liefert Kontaktadressen von Dienstleistern. Zu den Erfolgsbeispielen zählt Discovering Hands. Das Unternehmen bildet blinde und sehbehinderte Frauen zu Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen (MTU) aus, die im Rahmen der Brustkrebsfrüherkennung eingesetzt werden und diese durch ihre Tastfähigkeiten nachhaltig verbessern.

Neue Kollegin aus dem Ausland: „Zuwanderung“ ist eine der Antworten auf die Fragen des Arbeitsmarktes.
Integration durch Inklusion: 172.000 Menschen mit einem Handicap waren 2021 in Deutschland arbeitslos, obwohl viele gut ausgebildet sind. Ein perfektes Miteinander, wie in diesem Betrieb, gelingt noch zu selten.

Fortschritt durch generationsübergreifendes Arbeiten

Wer Erwerbsbeteiligung erhöhen will, kommt an einer weiteren Gruppe von Mitarbeitenden nicht vorbei: ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die 2014 eingeführte „Rente mit 63“ hat den Arbeitskräftemangel verschärft. Allein 2021 wurden 254.337 entsprechende Anträge bewilligt – viele Mitarbeitende nehmen hohe Abschläge in Kauf, um früher in den Ruhestand zu wechseln. Dabei ist ihr Erfahrungsschatz so wichtig. Der Versandhausriese Otto hat bereits 2017 das Netzwerk #experienced für die Generation 50+ gegründet. Um selbstgesteckte Ziele wie das gegenseitige Verständnis durch generationsübergreifendes Arbeiten zu fördern, lädt das Netzwerk zu Veranstaltungen und Seminaren ein. Und was ist mit den Arbeitslosen? Wie kann es sein, dass bei rund 2,4 Millionen Arbeitslosen überhaupt nach Fachkräften gefahndet wird? Die Antwort zeigt, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Denn in der Statistik tauchen auch viele Beschäftigte auf, die sich nur zwischen zwei Jobs für wenige Wochen beim Arbeitsamt melden.

Knapp eine Million Menschen gelten in der Statistik als Langzeitarbeitslose, sie sind länger als ein Jahr ohne Anstellung. Oft ist bei ihnen von „multiplen Vermittlungshemmnissen“ die Rede. Gemeint sind massive gesundheitliche Probleme, Schwerbehinderung – aber auch eine geringe schulische und berufliche Qualifizierung. In Deutschland haben etwa 4,7 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter keinen Berufsabschluss.

Weiterbildung als Schlüssel

Die Bertelsmann Stiftung fordert „eine neue Anerkennungskultur für Fähigkeiten, die on-the-job erworben wurden. Das ist gerecht und volkswirtschaftlich sinnvoll. Die Agentur für Arbeit hat das Programm Myskills entwickelt. In einem vier- bis fünfstündigen Test (viele Sprachen, auch Arabisch und Farsi) werden Fotos und Videos von klassischen Situationen aus dem Berufsalltag gezeigt. Dazu werden 120 fachspezifische Fragen gestellt. Mit Myskills sollen die Kompetenzen der Kandidaten getestet werden. Entwickelt wurde er für 30 verschiedene Berufe. Dass sich das sehr wohl lohnen kann, zeigt die Bertelsmann Studie: So übernimmt mehr als jede zweite Arbeitskraft ohne Ausbildungsabschluss (54 Prozent) Tätigkeiten von gelernten Fachkräften. Homeoffice, flexiblere Arbeitszeiten, Menschen mit Behinderung fördern, Langzeitarbeitslose und ungelernte Arbeitskräfte vermehrt in Jobs bringen, Betriebskitas – all diese Stellschrauben wollen bedient sein, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Und doch wird es auf Dauer ohne qualifizierte Zuwanderung nicht gehen. Dies gilt besonders für die Gesundheitsbranche, inzwischen sind offene Stellen für Pflegekräfte durchschnittlich sechs Monate vakant. Kliniken und Pflegeheime werben seit Jahren Pflegekräfte aus dem Ausland an. Asklepios, mit rund 170 Einrichtungen und 67.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen einer der führender deutschen Gesundheitskonzerne, hat inzwischen ein eigenes Willkommenszentrum eingerichtet. Das Zentrum unterstützt bei Sprachkursen, Visa-Beschaffung und Wohnungssuche. Mitunter geht Integration schlicht durch den Magen: Bei den Asklepios Kliniken Bad Wildungen werden regelmäßige Treffen außerhalb der Arbeitszeiten organisiert, bei denen die jeweiligen Nationalitäten die Kolleginnen und Kollegen bekochen.

Bezahlbare Wohnungen fürs Personal

Die norddeutsche Drogeriekette Budnikowsky belebt einen Trend aus den 70er Jahren und hat damit einen Trumpf im Kampf ums Personal im Angebot.

Zum Spatenstich im Februar 2020 kam sogar der Bürgermeister. Dies zeigt, wie wichtig dem Senat der Hansestadt Hamburg dieses Projekt war. Auf dem Budni-Firmengelände an der Wandsbeker Königstraße stehen 45 Sozialwohnungen mit Größen zwischen 45 und 90 Quadratmetern mit Solarpanels und Dachbegrünung vorrangig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung. Das Unternehmen Budnikowsky (Kurzform Budni) ist mit mehr als 190 Filialen größter Drogeriemarkt in der Metropolregion Hamburg, Bis Ende der 1970er Jahre gab es in Deutschland noch rund 450.000 Werkswohnungen, überwiegend in Besitz der Deutschen Bahn, der Deutschen Post und von Konzernen wie Volkswagen und RWE. In den 1990er Jahren trennten sich die meisten Unternehmen von ihrem Wohnungsbestand. Nun setzt im Kampf um Arbeitskräfte wieder ein Umdenken ein. Auch die Hamburger Hochbahn stellt über ihre Tochter, die HSG Hanseatische Siedlungs-Gesellschaft mbH, für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund 2.000 attraktive und preiswerte Wohnungen in Hamburg und Reinbek zur Verfügung. In den vergangenen zehn Jahren hat das Unternehmen mehr als 50 Millionen Euro in Sanierung und Modernisierung investiert. Diese Entwicklung kann nicht wirklich überraschen. Denn in Metropolen wie Hamburg zählt der Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu den Treibern der Krise im Fachkräftesektor. In diesen Regionen kennen seit Jahren die Mieten und die Preise für Eigentumswohnungen und Häuser nur eine Richtung: nach oben. „Steigende Mietpreise betreffen immer mehr Menschen, vor allem diejenigen, die im Niedriglohnsektor arbeiten“, sagt Cord Wöhlke, geschäftsführender Gesellschafter von Budni. Viele Unternehmen berichten, dass geeignete Bewerberinnen und Bewerber auf eine Zusage verzichten, da sie keine bezahlbare Wohnung in Hamburg finden. Budni hat nun im Kampf um Fachkräfte einen Trumpf mehr.

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